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Abschlussarbeit Literatur 2

Abschlussarbeit Literatur 2: Gattungen und Genres
Name: Marleen Qualm (1728667)
Dozent: Oliver Greiner
Kurs: Literatur 2: Gattungen und Genres (OADU-HLITER2-17)
Datum: 9. November 2018
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Inhalt
Bernhard Schlink - Der Vorleser
3
Rainer Maria Rilke - Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
8
Rainer Kunze - Sensible wege
12
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Bernhard Schlink – Der Vorleser
Erster Eindruck
In dem Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink erzählt Michael Berg von seinem Leben
mit Hanna Schmitz, mit der er als Fünfzehnjähriger ein besonderes Liebesverhältnis mit
Ritualhandlungen hat, bis Schmitz eines Tages verschwindet. Acht Jahre später, Berg
studiert dann Jura, sieht er sie wieder; sie ist Angeklagte in einem KZ-Prozess, und wird zu
lebenslänglicher Haft verurteilt. Nach acht Jahren im Gefängnis fängt Berg an Schmitz
Bücher vorzulesen. Bis zu ihrer Begnadigung, zehn Jahre später, schickt er ihr Kassetten.
Am Tag ihrer Freilassung verübt Hanna Selbstmord.
Es war das zweite Mal, dass ich dieses Buch gelesen habe. Das erste Mal ist über zwanzig
Jahren her. Das Buch habe ich damals als schöne, aber traurige Geschichte hingenommen.
Dieses Mal hatte ich eine ganz andere Leseerfahrung; ich war völlig verwirrt. Wer ist in
diesem Buch Täter, wer Opfer? Oder gibt es hier nur Verlierer? Für mich ist dieser Roman
ein Sinnbild der deutschen Vergangenheitsbewältigung.
Inhalt
Dieser Roman lässt sich in drei Teilen verteilen: die Liebesgeschichte, das Prozess und
Schmitz‘ Haftzeit und die Zeit nach ihrem Tod. Diese Dreiteilung folgt der persönlichen
Entwicklung von Berg und die Beziehungsnähe zu Schmitz: körperliche Nähe, Distanz und
distanzierte Nähe (Schäfer, 2000).
Die Hauptfiguren in diesem Roman sind Michael Berg und Hanna Schmitz. Alle anderen
Personen spielen nur eine kleine Rolle. Zehn Jahre nach Schmitz‘ Tod blickt Berg auf sein
schwieriges Verhältnis mit Schmitz zurück. Er beschreibt, analysiert und kommentiert
chronologisch die Ereignisse seiner Jugend und die Folgen der Liebesgeschichte mit
Schmitz für seine Entwicklung. Man könnte diesen Roman umschreiben als einen Monolog
aus kritisch betrachteten Erinnerungen.
Michael Berg ist der Ich-Erzähler und der wichtigste Protagonist des Romans. Er stammt aus
einem bürgerlichen Milieu, ist ein intelligenter Mann, ein Einzelgänger und beruflich
erfolgreich. Hanna Schmitz bleibt in den ganzen Roman eine mysteriöse Frau. Der Leser
erfährt nur was Berg über sie erzählt. Im Grunde genommen ist das nicht ganz viel; sie
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wurde 1922 geboren in Siebenbürgen, hat keine Verwandte, ist mit siebzehn Jahren nach
Berlin gegangen und arbeitete bei Siemens, bis sie sich der SS anschloss.
Der Ich-Erzähler beschreibt Schmitz als eine verführerische Frau mit einem kräftigen und
weiblichen Körper. Ihr Körper und ihre Haltungen und Bewegungen drücken eine innere
Ruhe aus (S. 17), die Berg anzieht. Diese innere Welt passt zu ihrer Verschlossenheit; sie
redet nicht über ihre Vergangenheit, auch die Zukunft betrachtet sie vom Tag zu Tag. Sie
sagt nichts über ihre Gefühle aus. Das Einzige was schließen lässt, dass sie Gefühle für
Berg hat, ist ihre Reaktion während des Streites im Urlaub.
Bergs Verhältnis mit Schmitz gibt ihm ein Gefühl von Selbstvertrauen, er fühlt sich kraftvoll
und überlegen (S. 29). Das ändert sich, wenn Schmitz auf einmal aus der Stadt wegzieht.
Berg meint, er sei daran schuld.
Nach seinem Abitur studiert der Ich-Erzähler Jura. Er hält Abstand zu Menschen, weil er
Angst hat erneut verletzt zu werden. Die Erinnerung an Schmitz hat er zwar verabschiedet,
aber nicht bewältigt. In einer Gerichtsverhandlung in einem KZ-Prozess erkennt er Schmitz
als eine von fünf angeklagten SS-Aufseherinnen. Schmitz wird die höchste Strafe auferlegt:
lebenslänglich. Ihren von ihr verborgenem Analphabetismus spielt im Prozess eine große
Rolle; schon am Anfang ist sie im Rückstand und wird von ihren Mitangeklagten zur
Haupttäterin gemacht.
Auf einem Spaziergang, noch während des Prozesses, erkennt Berg, dass Schmitz nicht
lesen und schreiben kann und sich deswegen vorlesen lassen hat. Der Ich-Erzähler ist
traurig über ihr verspätetes und verfehltes Leben (S. 178). Er weiß, dass sie im Prozess
Verbrechen gestanden hat, die sie nicht verübt haben kann, aber er hält sich vor, dass sie
zwar schuldig ist, aber nicht so schuldig wie es den Anschein hatte. Er hätte ihr helfen
können, in dem er sein Wissen mit ihr oder dem Richter geteilt hätte. Er macht das nicht.
Erst wenn Berg Schmitz‘ Geheimnis aufgedeckt hat, wird deutlich in wie weit ihr Leben im
Zeichen ihrer Scham infolge ihres Analphabetismus steht. Dies erklärt zum Teil ihr
Benehmen, aber die Frage, ob sie die Verbrechen begehen hat, wird damit nicht
beantwortet. Berg vermittelt dem Leser ein zwiespältiges Bild von Schmitz. Muss der Leser
sie bemitleiden, weil sie empfindlich ist? Ist sie hier ein Opfer, weil sie aus niedrigen
Verhältnissen stammt und ungebildet ist? Oder ist sie einfach eine knallharte, grausame
Verbrecherin? Dieses Dilemma widerspiegelt sich auch in der Frage wie man Schmitz‘
Behandlung ihrer Vorleserinnen beurteilen soll. Wollte sie diese schwachen Mädchen in der
kurzen Zeit ihres Lebens schützen oder hat sie sie einfach benutzt und abgewiesen? Meines
Meinung nach ist die wichtigste Frage dieses Romans: „Was hätten Sie denn gemacht?“ (S.
107). Auf diese Frage gibt es keine Antwort.
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Der Prozess beeinflusst Bergs Berufswahl. Er wird Rechtshistoriker, alle andere Berufe
findet er groteske Vereinfachungen. Seine Ehe und spätere Verhältnisse scheitern, weil er
ständig seine Jugendliebe (Hanna Schmitz) sucht. In ihrem achten Jahr in der Haft fängt
Berg an Schmitz Kassetten mit vorgelesenen Büchern zu schicken. Für ihn ist es eine Art
und Weise Schmitz Teil seines Lebens sein zu lassen und sie gleichzeitig auf einem
sicheren Abstand zu halten. Die Situation wird aber zehn Jahre später von ihrer Freilassung
bedroht. Ihr Selbstmord am Tag ihrer Entlassung ist für ihn keine Erleichterung, aber bewirkt
das Entstehen von neuen und Aufkommen von alten Schuldgefühlen. Er realisiert sich, dass
er Schmitz nie loswerden kann.
Themen und Motive
Das wichtigste Motiv in diesem Roman ist das Lesen. Es zeigt sich im Schmitz‘
Analphabetismus und die Bücher die sie im Gefängnis gelesen hat, Bergs Rolle als Vorleser
und seine Liebe zur Literatur. Das Motiv hat eine tiefere Bedeutung, denn die Fähigkeit zum
Lesen hat sich mit dem Zugang zur Kultur und Ausbildung verknüpft. Im übertragenen Sinn
ist Lesen die Fähigkeit die Motive und Taten Anderer zu interpretieren und zu verstehen.
Schmitz schafft das, während des Prozesses, nicht.
Das Thema Schuld und Scham kommt in unterschiedliche Formen im Roman vor. Berg fühlt
sich schuldig, weil er Schmitz, seinen Mitschüler gegenüber, verleugnet hat. Später erkennt
er, dass er eine Verbrecherin geliebt hat und für ihren Selbstmord verantwortlich sein könnte.
Durch das Urteil sieht es aus ob Schmitz schuldig ist, aber die Frage ob das tatsächlich so
ist, wird im Roman nicht geklärt. Deutlich ist aber, dass sie auch Schuld gestanden hat für
Verbrechen die sie nicht begangen haben kann. Dazu kommt, dass ihre Mitangeklagten
auch Schuld haben an dem Tod der Gefangenen, aber Schmitz zur Einzeltäterin machen.
Die Scham zeigt sich bei Schmitz in ihr Verhalten ihrem Analphabetismus gegenüber; sie
versteckt es zu jedem Preis.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein weiteres Thema. Die individuelle Schuld Bergs
und Schmitz‘ wird mit der kollektiven Schuld zweier Generationen Deutschen verknüpft. Der
Ich-Erzähler fragt sich, ob die Menschen die im Krieg dabei waren, schuldig sind und ob die
Nachkriegsgeneration dann grundsätzlich unschuldig ist. Auch diese Frage bleibt
unbeantwortet (S. 162,163).
Berg kann sich nicht von Schmitz lösen; sie bestimmt, auch zehn Jahre nach ihrem Tod, sein
Leben. Genauso kann Deutschland sich nicht von seinem Nazivergangenheit entziehen, die
Vergangenheit lebt weiter in der Gegenwart (S. 206). Der Ich-Erzähler behauptet, dass sie
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immer wieder aufgearbeitet werden soll. Seine Botschaft ist klar: die Vergangenheit ist und
darf kein geschlossenes Kapitel sein. Letztendlich wird das Schmitz zum Verhängnis.
Die problematische Liebe zwischen einem fünfzehnjährigen Schüler und einer älteren Frau
ist ein drittes Thema des Romans.
Zeit und Raum
Die Sprache des Romans ist leicht zu verstehen und nüchtern. Der Ich-Erzähler reflektiert
und kommentiert, mit Abstand und nahezu emotionslos, aber dennoch gelingt es den Autor
Emotionen beim Leser auszulösen. Der Stil und die Sprache sind dem Alter des IchErzählens angemessen (Schäfer, 2000).
Im ersten Teil des Romans ist die erzählte Zeit etwa neun Monate. Bestimmte Episoden
werden zeitdeckend von dem Fünfzehnjährigen erzählt. Im zweiten Teil spricht der
Jurastudent. Der erzählte Zeitraum beläuft sich auf sieben Jahre. Die Verhöre im Prozess
werden in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben. Der Ich-Erzähler fasst
Geschehnisse zusammen und trägt sein juristisches Wissen zur Schau. In diesem Abschnitt
ist auch öfters die Rede von innerem Monolog. Bestimmten Ereignissen werden zeitdeckend
erzählt.
Im dritten und letzten Teil ist der Zeitabschnitt am größten: vom Ende des Prozesses (1966)
bis zum Besuch in New York (1984). Im letzten Kapitel macht der Ich-Erzähler einen
Zeitsprung nach 1994. In diesem Abschnitt wird reflektiert und kritisiert, einige Episoden
werden zeitdeckend erzählt. Die Räume des Romans sind Heidelberg, Frankfurt und KZLager Struthof-Natzweiler (Schäfer, 2000).
Gattung
Der Rahmen der Geschichte im Nachkriegsdeutschland passt zur Thematik des Romans.
Der Ich-Erzähler analysiert und kommentiert der zweiten Generation und den Entwicklungen
im Nachkriegsdeutschland. Er beschreibt wie die Deutschen mit der Hinterlassenschaft des
Zweiten Weltkrieges ringen. Von diesem Blickwinkel aus, lässt sich dieser Roman als
Gesellschaftsroman einordnen.
Andererseits kann Der Vorleser auch als Entwicklungsroman angedeutet werden. Berg
beschreibt wie er, geboren im 1943, aufwächst im Nachkriegsdeutschland und sich als
unschuldiger Deutscher mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss. Der Roman kann
auch wie einen Kriminalroman gelesen werden. Ab und zu gibt es eine Vorschau zu später
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erworbene Einblicke. Der Erzähler baut die Spannung auf und macht den Leser neugierig.
Letztendlich gibt er keine Antworten auf alle Fragen.
So ist das Motiv Schmitz‘ für ihren Selbstmord sind unklar. Im Roman wird unterstellt, dass
Schmitz, nachdem sie sich das Lesen und Schreiben erlernt hat, sich bewusst ist von ihrer
schuld. Ihr Selbstmord wäre so wie eine Form des Büßens einzuordnen. Meiner Meinung
nach, könnte es auch eine endgültige Flucht sein. Nachdem sie im Gefängnis Bücher über
Konzentrationslager und Zeugenberichte gelesen hat, wird ihr das Ausmaß des Krieges
bewusst, und ist ihr klar, dass die Gesellschaft ständig Rechenschaft fordern wird. Sie wird
ihre Vergangenheit, auch nach achtzehn Jahre Haft, nie wieder los. Vielleicht war ihr das
Leben mit diesem Wissen einfach zu schwer. Dafür spricht, dass sie sich im Gefängnis
isolierte und nicht mir auf ihrem Äußerem achtete.
Für mich lässt Der Vorleser sich deuten als ein Buch über die Vergangenheitsbewältigung
Deutschlands. Außerdem ist es einen Roman in dem die Protagonisten sich mit ihrer
eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Berg und Schmitz sind Täter und Opfer ihrer
Vergangenheit und der Vergangenheit Deutschlands.
Quellen
Schäfer, D. (2000). Der Vorleser. Inhalt. Hintergrund. Interpretationen. München: mentor.
Schlink, B. (1995). Der Vorleser (Ausgabe 1997). Zürich: Diogenes
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Rainer Maria Rilke - Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
1 Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
2 Sie sprechen alles so deutlich aus:
3 Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
4 und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
5 Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
6 sie wissen alles, was wird und war;
7 kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
8 ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
9 Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
10 Die Dinge singen hör ich so gern.
11 Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
12 Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Erster Eindruck
Das Gedicht Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort wurde 1898 von Rainer Maria Rilke
verfasst. Ich habe es in der Oberstufe des Athenäums zum ersten Mal gelesen, aber damals
hat es mir nicht viel gesagt. Jetzt wirkt das Gedicht auf mich beim ersten Lesen bedrückend.
Die Empfindungen und Wahrnehmungen des Sprechers drücken vor allem Angst aus. Ich
habe den Eindruck, dass das Gedicht etwas über den Seelenzustand des lyrischen Ichs
aussagt.
Inhalt
Das Thema dieses Gedichts ist die Angst des lyrischen Ichs für die menschliche Sprache.
Die Angst zeigt sich u.a. in den Worten fürchte, bangt, warnen, wehren. Das lyrische Ich
meint, dass Menschen die Sprache benutzen, ohne sich um die Schönheit der Sprache zu
kümmern. Die Sprache wird nur funktionell benutzt. Die Angst des lyrischen Ichs ist sichtbar
in der Überschrift und im Gedicht (Z. 1, 5, 9).
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Das lyrische Ich beschreibt im Gedicht die Entwicklung der Menschen durch die Sprache als
negativ. Es erklärt, dass die Wörter der Menschen, seiner Meinung nach, der Welt die
Schönheit wegnehmen. Hiermit nehmen sie der Welt ihre Wunder und fühlen sich fast wie
Gott. Diese Auffassung des lyrischen Ichs passt zur Literaturepoche der Moderne, in der
Rilke lebte und arbeitete (Wucherpfennig, 2010).
Rilke benutzt im Gedicht hier mehrere Motive. Neben dem Motiv der Angst wird das Motiv
der Abgrenzung, der Einsamkeit verwendet, ein bekanntes Thema aus den Werken Rilkes
(Leppmann, 1981). In den ersten zwei Strophen schirmt das lyrische Ich sich von den
Menschen ab. Es benutzt die Personal- und Possessivpronomen sie, ihr und ihnen um sich
von den Menschen abzugrenzen. In der letzten Strophe werden die Menschen aber direkt
angesprochen (ihr).
Ein weiteres Motiv ist die Dekadenz, der moralischer Verfall der Menschheit. Das lyrische Ich
stellt die Angeberei der Menschen da. Sie tun sich wichtig mit ihrem Dasein, mit ihrem
Besitz, haben aber kein Auge für den Wert der Sprache, der einzelnen Wörter
(Wucherpfennig, 2010). Die Sprache wird, nach der Meinung des lyrischen Ichs,
oberflächlich und unbewusst benutzt.
Form und Sprache
Rilke benutzt in diesem Gedicht einfache und vollständige Wörter. Im ersten Satz gibt es
eine abweichende Wortstellung, der Menschen Wort. Meiner Meinung nach war diese
notwendig um den Reim einzuhalten. Zugleich könnte diese Abweichung auch ein Zeichen
der Abgrenzung des lyrischen Ichs von den Menschen sein.
Die zehnte Zeile ist die einzige Zeile, in der der Autor ein Wort verkürzt hat (hör statt höre).
Die Zeilen sind metrisch nicht streng geordnet, weil sie nicht alle gleich lang sind. Das
Metrum gleicht, meiner Meinung nach, am meisten einen Daktylus.
Die Sprache wird im Gedicht als Wort umschrieben. Das lyrische Ich sagt aus, dass
Menschen die Sprache benutzen um jeden Gegenstand zu benennen und einzuordnen.
Hierzu benutzt Rilke mehrere Stilfiguren, wie Wortwiederholungen (Z 3, 4), die Einsilbigkeit
der Wörter (Z. 3) und Alliteration (Z. 3, 5, 6, 8, 9, 11). Die Wörter Beginn und Ende (Z. 4) sind
Gegensätze, aber könnten im Kontext dieses Gedichts als Chiasmus betrachtet werden.
Die Klangfarbe dieses Gedichts spiegelt die Angst des analytischen Ichs wider. So sind die
Vokalen der Zeilen 1, 8 und 11 vor allem dunkel, wodurch die Angst des lyrischen Ichs
verstärkt auf dem Vordergrund tritt. Im Endreim aber werden keine besonderen Klänge
benutzt (Wort – aus//Haus – dort).
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Das Gedicht ist aufgebaut in drei Strophen mit jeweils vier Zeilen. Die zwölf Zeilen reimen
sich im umarmenden Reim (in Strophe 1 abba und Strophe 2 cddc) und Paarreim (eeff in der
dritten Strophe). Die Änderung des Reimschema ist zugleich ein inhaltlicher Bruch. Ab der
dritten Strophe werden die Menschen direkter angesprochen, mit anderen Personal- und
Possessivpronomen. Der Endreim ist männlich und stumpf. Es gibt im Gedicht nur einen
Zeilensprung (Z. 3, 4). Der Titel dieses Gedichts steht getrennt von den anderen Zeilen,
gleicht aber die erste Zeile.
Die drei Strophen hängen stark miteinander zusammen. In der ersten Strophe wird die
Situation beschrieben: Menschen sprechen und das lyrische Ich fürchtet sich dafür. Der
Hauptgrund seiner Angst ist, dass die Menschen Wörter benutzen, ohne ihre Bedeutung und
ihren Wert zu kennen.
In der zweiten Strophe werden die Gründe für die Angst des lyrischen Ichs erläutert. Das
lyrische Ich meint, dass Menschen durch ihre Wörter die Welt entzaubern. Sie haben nur ein
Auge für ihr eigenes Wohl und Besitz. Sie benehmen sich als seien sie (fast) Gott.
In der letzten Strophe hält das lyrische Ich die Menschen vor, dass sie Dinge töten, indem
sie über sie sprechen. Zuerst spricht er aus, dass er die Welt schön finde (Z.10). Es weiß wie
schön die Sprache ist und es fordert die Menschen auf die Situation so zu lassen. Diesem
Appell wird keine Folge geleistet: Die Menschen gehen sorglos mit der Sprache um. Sie hat
keinen Wert mehr, keine Bedeutung und bringt so Dinge um.
Das Gedicht liest sich wie eine Art Innere Monolog, in der das lyrische Ich sich von den
Menschen distanziert. Es hat Angst (Strophe 1), klagt an (Strophe 2) und appelliert (Strophe
3). Man muss davon ausgehen, dass es sich beim lyrischen Ich um einen Menschen handelt,
denn ein wichtiger Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist das Sprechen.
Das lyrische Ich fasst mit dem Wort Ding (Z. 10) alles zusammen wofür Menschen ein Wort
haben: Gegenstände und Lebewesen. Diese Dinge sollen singen, sie sollen lebendig sein.
Die Menschen aber, machen die Dinge starr und stumm, sie töten sie.
Mehrere Elemente dieses Gedichts passen zur Literaturepoche und der Gesellschaft in der
Rilke lebte. Als Anti-Naturalist war er zurückhaltend zur Gesellschaft. Die sehr schnellen
gesellschaftlichen Entwicklungen in u.a. der Wirtschaft und Wissenschaft führten zu einer
Sprachkrise, mit der Hauptfrage: Kann die Sprache die Wirklichkeit beschreiben?
(Wucherpfennig, 2010). Diese Frage spielt im Hintergrund dieses Gedichts.
10
Quellen:
Leppmann, W. Rilke. Sein Leben, seine Welt, sein Werk (1981). Bern/München: Scherz.
Rilke, R. M. (2016). Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. In: Gerritsen, R. en Sars, P.:
Lyrik Poesie Poetry. Nijmegen (Reader) 2016-2017.
Wucherpfennig, W. (2010). Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur
Gegenwart. Stuttgart: Ernst Klett.
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Reiner Kunze - Sensible wege
1 Sensibel
2 ist die erde über den quellen: kein baum darf
3 gefällt, keine wurzel
4 gerodet werden
5 Die quellen könnten
6 versiegen
7 Wie viele bäume werden
8 gefällt, wie viele wurzeln
9 gerodet
10 in uns
Erster Eindruck
Vor fünf Jahren habe ich mich abends durch die Kanäle gezappt und bin in einer Sendung
auf 3Sat gelandet. In dieser Sendung wurde Reiner Kunze befragt über sein Leben und
seine Werke. Ich kannte den Autor nicht, seine Werke schon gar nicht, aber irgendwas hat
mich dazu bewegt zuzuhören. Im Nachhinein habe ich viele seiner Werke gelesen.
Ich habe mich deswegen für ein Gedicht Kunzes entschieden, und zwar für Sensible wege.
Das Gedicht gibt mir auf dem ersten Blick ein beklemmendes Gefühl. Zuerst wird von einer
sensiblen Erde gesprochen, nachher wird gerodet und ist alles weg. Das Gedicht ist 1969,
vor fast 50 Jahren, veröffentlicht, aber meine Überzeugung nach ist es noch immer aktuell.
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Inhalt
Das Gedicht erweckt den Eindruck, als ob das Thema den Schutz der Umwelt ist. Wenn man
den Text sorgfältig liest, braucht nicht nur die Umwelt Schutz, sondern auch der Mensch. Er
braucht Schutz für seinen Körper, und für seine Seele. Ohne Schutz ist der Mensch
verletzbar und wird, früher oder später, auch verletzt werden. Der Mensch hat für die Natur,
die Umwelt, Maßnahmen getroffen, um sie zu erhalten. Er achtet aber nicht auf Eingriffen in
die innere Natur des Menschen.
In diesem Gedicht finden sich die Motive der Tod und das Leben. Der Tod ist sichtbar im
Roden der Bäume und deren Wurzeln: die Erde stirbt. Genauso geht es den Menschen,
wenn sie keinen Schutz mehr haben. Der Mensch wird verletzt und stirbt, entweder
körperlich oder geistlich. Die Quellen symbolisieren (neues) Leben.
Bei der Analyse dieses Gedicht muss man die Hintergründe des Dichters Reiner Kunze
einbeziehen. Er war Bürger der Deutschen Demokratische Republik (DDR), sechzehn Jahre
Mitglied der Sozialistische Einheitspartei Deutschland, wurde aber vom realistischen
Sozialismus enttäuscht. Nach dem Einsatz Russischer Truppen in Prag 1968 und die
Bejahung des Einsatzes durch die SED erhob Kunze Protest und stieg aus der SED aus.
Letztendlich wurde er in der DDR ausgesperrt aus dem Schriftstellerverband und boykottiert.
Das Gedichtband Sensible wege wurde 1969 veröffentlicht in Westdeutschland, nachdem es
in der DDR abgelehnt wurde. Nach der Veröffentlichung des Gedichtbandes wurde Kunze
aktionslüsterner Individualismus und Anti-Kommunismus vorgeworfen (Wallmann, 1977).
1977 wurde Kunze in den Westen abgeschoben, nachdem er sich eine Protestaktion für Wolf
Biermann angeschlossen hatte. Wie Biermann, sah auch Kunze die DDR als einen Staat,
der sich ändern musste und könnte, indem er mehr Auge für die persönliche Bedürfnisse der
DDR-Bürger hatte (Wucherpfennig, 2010).
Form
Das Gedicht hat einen freien Rhythmus ohne Reim. Es besteht aus zehn Zeilen von
unterschiedlicher Länge. Die Zeilen sind unterteilt in vier unregelmäßige Strophen. Zu
diesem Gedicht kann man sagen, dass es auf alle traditionellen Formmittel verzichtet.
Bei der Wortwahl gibt es keine besonderen Merkmale; der Autor des Gedichts benutzt die
hochdeutsche Sprache in einfachen Sätzen. Zur optischen Gestalt fällt auf, dass Kunze nur
Großbuchstaben an den Anfängen der Aussagen benutzt. Alle anderen Worte werden
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kleingeschrieben, auch Substantive. Im Gedicht gibt es nur ein Satzzeichen, einen
Doppelpunkt (Z. 2).
Das im Gedicht geschilderte Bild eines Waldes (die Bäume) betrachte ich als eine wichtige
Metapher. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der „Deutsche Wald“ in der Literatur
nachdrücklich hervorgehoben (Wucherpfennig, 2010). Ich könnte mich vorstellen, dass der
Verfasser dieses Gedichts dieses Bild für die DDR benutzt.
Das Gedicht hat einen verdeckten Sprecher, der sich an den Leser wendet. Er erläutert den
Eingriffen des Menschen in der Natur. In Strophe 1 wird eine Situation beschrieben; die Erde
ist sensibel und muss geschützt werden. Die Bäume und deren Wurzeln in der Erde müssen
behalten bleiben. Das Wort darf weist auf ein Verbot hin.
Strophe 2 erwähnt die möglichen Folgen, wenn das Verbot nicht eingehalten wird. Ohne
Bäume und Wurzeln könnten die Quellen nachlassen: Die Erde muss vor den Menschen
geschützt werden. In der dritten Strophe wird dargestellt, dass, trotz des Verbots, doch
Bäume und Wurzeln gerodet werden. Wer das macht und warum, wird nicht erläutert.
Erst in der letzten Strophe wird ein Personalpronomen genannt. Mit den Worten in uns
kommt ein lyrisches Wir zu Wort, aber unklar ist für wen es spricht. Mit in uns wird die
Aufmerksamkeit auf den Menschen gelenkt. Der Mensch bedroht nicht nur die Natur,
sondern auch der Mensch. Ich glaube, dass der Autor in dieser Strophe aufzeichnet, dass
viele Bäume und Wurzeln (in den Menschen) schon gerodet sind.
Es ist mir nicht deutlich, ob er damit meint, dass die Führung der DDR dafür verantwortlich
ist. Täter werden nicht genannt, aber aus den Passivsatz kann man schließen, dass die Tat
von außen kommt. Demgegenüber steht allerdings, dass es sich hier auch um den
Menschen handeln könnte; der Mensch zerstört sein Lebensraum. In diesem Fall wird der
Mensch vom Innern wie vom Äußern gefährdet.
Die Überschrift des Gedichtes lautet Sensible wege, aber von diesen Wegen ist im Gedicht
nicht die Rede. Meiner Ansicht nach, bezieht das Wort sensibel sich auf die Suche nach
einem feinfühligen, gefühlvollen Weg im DDR-Sozialismus, ein Sozialismus mit einem
menschlichen Gesicht (Wallmann, 1977). Kunze hebt hier nicht ausschließlich die Literatur
der DDR hervor. Es geht vor allem darum, dass gemeinsam gehandelt wird, zu dem das
lyrische Wir In der letzten Zeile des Gedichts auffordert.
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Quellen
Kunze, R. (2003). Sensible wege und frühe gedichte (4. Auflage). Frankfurt/Main: Fischer.
Wallmann, J. (1977). Reiner Kunze. Materialien und Dokumente. Frankfurt/Main: Fischer.
Wucherpfennig, W. (2010). Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur
Gegenwart. Stuttgart: Ernst Klett.
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